Reform- und Diätküche
Dass die Gesundheit des Menschen auch von seiner Ernährungsweise abhängt, war keine neue Erkenntnis. Bisher aber waren es eher Mangelerscheinungen, die das verdeutlicht hatten. Mit der Industrialisierung änderte sich das. Die Ernährungsgewohnheiten wandelten sich grundlegend. Ernährungsreformer forderten eine Rückkehr zu „gesunder“ Ernährung und konnten dieser Forderung mit immer neuen medizinischen Erkenntnissen Nachdruck verleihen.
Das Diätetische Kochbuch von Josef Wiel erlebte zwischen 1871 und 1896 sieben Auflagen. Der Mediziner aus dem südbadischen Bonndorf erwarb sich seit den 1860er Jahren einen Ruf als Koryphäe seines Fachs für Magenleiden. Unter anderen behandelte er auch Friedrich Nietzsche. Ab 1872 praktizierte er in Zürich, wo er eine Spezialklinik leitete. Die Regeln seines Diät-Kochbuchs sind auf Wohlgeschmack, Verdaulichkeit und Nährwert der Speisen hin ausgelegt. Und zu dessen Erfolg trug sicherlich bei, dass es ihm eben nicht darum ging, den Kranken möglichst viel zu verbieten, sondern ihnen umgekehrt möglichst viel zu erlauben: „Wie dem auch sei: ein Bündniss zwischen Kranken und Feinschmeckern ist jedenfalls wohlthätiger für die Menschheit, als ein Bündniss zwischen Arzt und Apotheker!“
In der Naturheilanstalt „Lichtental“ bei Baden-Baden verabreichten Bernhard und Maria Binswanger eine strenge vegetarische Kost. Auf Wunsch ihrer Patienten, so schreiben sie, veröffentlichten sie 1907 ihr Diätetisches Kochbuch, das 1913 unter dem Titel Die fleischlose Küche wiederaufgelegt wurde. Es informiert zunächst ausführlich über alles, was als der gesunden Ernährung abträglich und schädlich betrachtet wird, wettert gegen Salz, Zucker, Fette, Weißmehl, gegen Kalt- und Heißgetränke und Genussmittel jeder Art, auch gegen neue Produkte wie Fleischextrakt, Speisewürze, Industriehefe, Backpulver und Blechkonserven, und präsentiert dann die Rezepte der Anstaltsküche. In der strikten Ablehnung mit modernen technischen Verfahren hergestellter Lebensmittel offenbart sich ein fortschrittsfeindlicher Impuls, der über den naturheilkundlichen Ansatz hinaus in das weltanschauliche Umfeld der Lebensreformbewegung weist.
Zur Unterstützung der Ernährungsreformer eröffneten seit 1887 überall in Deutschland Reformhäuser, die die benötigten gesunden Lebensmittel vorhielten. 1910 eröffnete Carl Mauterer, nach eigenen Angaben vormals Küchenmeister des Fürsten von Monaco, sein Reformhaus in der Herrenstraße in Karlsruhe. Vorher hatte er in der Stadt als Konditor gearbeitet. Und zur Eröffnung seines Geschäfts gab er im Selbstverlag Die praktische Reform-Küche heraus. Sein Anspruch als Lebensreformer ging dabei noch weit über den Vegetarismus hinaus: er wollte mit seinem Kochbuch „dazu beitragen, dem Hinaufstreben zur Vervollkommnung unserer Zeitgenossen Dienste zu leisten“ und „ein geistig, seelisch und körperlich gesünderes Geschlecht erstehen zu lassen.“
Lit.: Verk, Sabine: Kochbücher zur „natürlichen“ Ernährung. In: Dies.: Geschmacksache. Kochbücher aus dem Museum für Volkskunde. Berlin 1995, S. 93-101; Methler, Eckehard und Walter: Von Henriette Davidis bis Erna Horn. Bibliographie und Sammlungskatalog hauswirtschaftlicher Literatur. Wetter (Ruhr), 2001. S. 408 (Maria Hädecke), S. 750-758 (Josef Wiel); Merta, Sabine: Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880-1930. Stuttgart 2003.
Exponate:
9.1
Wiel, Josef:
Diätetisches Koch-Buch, mit besonderer Rücksicht auf den Tisch für Magenkranke.
2., umgearbeitete und vermehrte Auflage.
Freiburg i. Br.: Wagner, 1873.
Im „Voressen“, der Vorrede seines neuen Kochbuchs, erklärte der Gastroenterologe Josef Wiel (1828-1881): „Der Verfasser dieser Schrift möchte vor Allem beichten und bekennen, dass er – ein Feinschmecker ist. Wie Alle anderen ist auch er durch Zufall es geworden und – aufrichtig gestanden – bereits soweit gekommen, dass er die Feinschmeckerei nicht nur für kein Laster, sondern für eine ganz besondere Tugend hält. [...] Der originelle Gastrosoph Brillat-Savarin erklärt die Feinschmeckerei als die größte Feindin der Excesse, sie sei die wohlüberlegte Vorliebe für wohlschmeckende Dinge und wisse mit großer Sachkenntniss auszuwählen und sogar selbst zu kochen, Eins bringt das Andere: Der Feinschmecker wird schliesslich zum Koch. So ist es auch dem Verfasser ergangen.“
Für all jene Patienten, die unter hartnäckiger Übersäuerung des Magens leiden, empfiehlt Wiel vor allem neutralisierende Leimstoffspeisen, also Sülze, Gelée, Aspik oder Jus. Er selbst hat ein Rezept für „Wielsches Gelée für Magenkranke“ entwickelt, das auf Seite 102 mitgeteilt wird. Da allerdings Abwechslung auch in der fettreduzierten Diätküche sein muss, folgt sogleich ein Rezept für die Delikatesse Eingesulztes Ochsenmaul.
Badische Landesbibliothek: 59 A 1815
Provenienz: „Alter Bestand“
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Die 6. Auflage von 1886 ist in der SLUB Dresden digital verfügbar.
9.2
Binswanger, Maria:
Diätetisches Kochbuch.
Baden-Baden: Kölblin, 1907.
Die Diätküche der Binswangers ist vegetarisch, aber nicht nur das: ausgeschlossen sind auch Spargel, Pilze, Hülsenfrüchte, Weißmehl und mit Backpulver oder Industriehefe zubereitetes Backwerk. Von den tierischen Nahrungsmitteln gelten Fleisch, Fisch, tierische Fette, Eier und reifer Käse als schädlich, nur Milch, Butter und Frischkäse sind erlaubt. Auch scharfe Gewürze sowie Kaffee, Tee, Schokolade und Alkohol sind untersagt. Grundlage der Ernährung sind Nüsse („das Fleisch der Vegetarier“), frisches Obst, Gemüse, Vollkornprodukte, frische Milchprodukte und Honig.
Badische Landesbibliothek: 115 E 587
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9.3
Binswanger, Maria:
Die fleischlose Küche. Neues diätetisches Kochbuch.
Baden-Baden: Selbstverlag, 1913.
Erweiterte Neuausgabe.
Badische Landesbibliothek: 115 E 1369
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9.4
Mauterer, Carl:
Die praktische Reform-Küche.
Karlsruhe: Mauterer, 1910.
In den Karlsruher Adressbüchern ist Carl Mauterer seit 1900 als Konditor nachgewiesen. Sein 1910 gegründetes Reform- und Delikatessengeschäft in der Herrenstraße 33 firmierte dort von 1915 bis 1921 als Reform-Nahrungs- und Genußmittelhaus „Zum Neugestalter“. 1922 wird ein Nachfolger genannt.
Badische Landesbibliothek: 60 A 692
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9.5
Oberdörffer, Margarethe:
Diätlehre und Kochbuch. Mit Einleitung von H. J. Oberdörffer:
Gailingen (Baden), Dießenhofen (Schweiz): Rheinburg-Verlag, [1934].
Der Arzt und Lebensreformer Dr. Heinrich Joseph Oberdörffer, Anhänger der Mazdaznan-Lehre, richtete 1912 in einer Villa bei Gailingen das Sanatorium Schloss Rheinburg ein, das bis 1939 bestand. Im Park ließ er vier Holzblockhäuser errichten, weitere Neu- und Umbauten wurden 1922-1936 ausgeführt. Etwa 40 bis 50 Gäste fanden hier Platz. Gesunde, naturgemäße Ernährung mit selbsterzeugten landwirtschaftlichen Produkten stand neben Atem- und Gymnastikübungen im Mittelpunkt der „Heilstätte für Regenerationskuren und Wiedergeburt“, die Heilerfolge des Sanatoriums wurden im Wesentlichen auf die diätetische, streng vegetarische Küche zurückgeführt. Diese führte die Schwiegertochter des Klinikdirektors Margarethe Oberdörffer, die Verfasserin dieses Kochbuchs.
Badische Landesbibliothek: 115 E 1144
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9.6
Werbekarte für das Sanatorium Schloß Rheinburg bei Gailingen-Baden.
Badische Landesbibliothek: zu: 115 E 1144
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9.7
Hädecke, Maria:
Harnsäurearme Diät, abwechslungsreich und schmackhaft. Das Kochbuch bei Gicht, rheumatischen Leiden und nervösen Störungen. 365 Tage ohne Fleisch. Für jeden Tag des Jahres Speisezettel (Mittag- u. Abendessen) mit erprobten Rezepten.
Alle Rezepte ärztlich geprüft. Einführung in die Diät von B. Micklinghoff-Malten.
Veränderte Neuauflage, 11.-15. Tsd.
Stuttgart: Hädecke, 1940.
Ein vegetarisches Kochbuch mit Rezepten für basische und salzarme Kost. Maria Hädecke (1898-1994) hatte als Gastwirtstochter den Stuttgarter Verleger Walter Hädecke geheiratet. In dessen Verlag erschien ab 1930 das Kochbuch von Hermine Kiehnle – der „schwäbischen Emma Wundt“ –, dessen Neuauflagen von Maria Hädecke bearbeitet wurden. Zudem spezialisierte sich der Verlag auf Ernährungsratgeber. Maria Hädecke selbst wurde dann aus Anlass der Erkrankung ihres Mannes zur Autorin von Spezialkochbüchern für Gichtkranke. Den ärztlichen Teil und die Überprüfung der Rezepte übernahm Bernhardine Micklinghoff-Malten, Kurärztin in der Anstalt für Nerven- und Stoffwechselkranke in Baden-Baden.
Badische Landesbibliothek: 115 E 1756
Nicht digitalisiert
© Badische Landesbibliothek 2016. Autorin: Dr. Julia Freifrau Hiller von Gaertringen
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